Donnerstag, 15. Dezember 2016

Machen wir doch mal etwas anders...




Machen wir doch mal etwas anders…


Es ist wieder Adventszeit, die Auslagen der Supermärkte quellen schon seit Anfang Herbst über von dem vielen Weihnachtszeug. In der örtlichen Shopping Mall werden die Weihnachtseinkäufe zum Spießrutenlauf unter gnadenloser Beschallung von „Last Christmas“. Draußen ist es jetzt empfindlich nasskalt geworden und die meisten von uns haben sich in ihre warmen Behausungen verkrochen.
 

Seit Regen und Nebel die Herrschaft in der Natur übernahmen und die Landschaft mit ihrem grauen Schleier überzogen haben, ist auch Ruhe im Berliner Stadtrandwald eingekehrt.

Abgesehen von einem Hundebesitzer der mit „Wauwie“ Gassi gehen muss, einem zukünftigen Ausdauersportler, der mit ungesunder dunkelroter Gesichtsfarbe an mir vorbei schnauft und ein paar armen Kindern, die man zu dieser Jahreszeit erbarmungslos zum Spielen in den Wald getrieben hat, ist hier offensichtlich niemand mehr.
Hut ab vor den kleinen Rackern, die fröhlich und ausgelassen durch den Regen toben, denke ich mir und ziehe sogleich den Reißverschluss meiner Jacke noch ein Stückchen höher. Ich versuche mich noch weiter in die Tiefe meiner Jacke zu verkriechen, um dem fiesen Sprühregen doch noch zu entgehen. Es hilft nichts...Sprühregen, schräg von vorn, keine Chance! Verstohlen linse ich aus dem schmalen Spalt zwischen Jackenkragen und Kapuze heraus und beobachte fasziniert, wie die kleine Schar von wilden Kindern sich unter lautem Gejohle die Böschung hinunter in einen kleinen Graben rollen lässt. An der anderen Seite wird auf Händen und Füßen sofort wieder hoch gekrabbelt und im Schleudergang geht es erneut den kleinen Hang hinunter in den Matsch. Inzwischen sind alle mit einer dicken Schicht aus nassem Laub und Sand paniert. Auf den Gesichtern spiegelt sich die helle Freude.
Genau so muss Kindheit aussehen, denke ich mir. Das ehemalige Pink, Rot oder Gelb der Matschanzüge ist bereits dem erdigen Ton des Bodens gewichen. Ein Gummistiefel bleibt an einer Wurzel hängen während seine Besitzerin den Verlust erst gar nicht zu bemerken scheint. Erst als mehrmals ein krächzender Ruf ertönt, gerät die Rutschpartie langsam ins Stocken und einige Kinder rufen aufgeregt: der Rabenruf, der Rabenruf…!

Dies scheint ein vereinbartes Zeichen zu sein, denn plötzlich drehen alle die Köpfe in Richtung eines Mannes, mit grünen Klamotten und Hut, der gerade seinen Rucksack aufschnallt. „Leute, wir wollen doch noch Zweige für den Julkranz sammeln...“ruft er und die „Rotte“ verlässt gemächlich ihre Suhle in Richtung des Nadelwäldchens. Interessant, sage ich mir und trotte hinterher. Die wollen Zweige für einen Julkranz sammeln, was soll das denn sein?
Nun, einen Adventskranz kenne ich und das die Skandinavier zu Weihnachten „Jul“ sagen habe ich auch schon mal gehört. Aber das Wort Julkranz sagt mir rein gar nichts. Da wir ja im Kommuni-kationszeitalter leben und ich sozusagen eine ganze Bibliothek in meiner Hosentasche herum trage, zücke ich mein Smartphone. Doch was ist das, ein einziger lausiger Balken im Berliner Stadtrandwald. „Von wegen Weltstadt, selbst im ehemaligen Tal der Ahnungslosen haben die mehr Netz“, blubbere ich vor mich hin bis das Handy überhaupt keine Verbindung mehr anzeigt.


Während ich voller Groll auf meine selbstgewählte Sklavenfessel starre und durch den verregneten Novemberwald stapfe, werde ich aus meinen Gedanken gerissen, indem ich über einen kleinen mitten auf dem Waldweg liegenden Rucksack stolpere. Schon kichert es zwischen den Bäumen links neben mir und aus dem Dickicht kommen immer mehr, mit grünen Zweigen beladene, kleine Menschen zum Vorschein. „Oh, Tannengrün für eure Adventsgestecke“, mutmaße ich und setze die wissende Erwachsenmiene auf. Wieder großes Gelächter, „Nee, dit is für unsern Julkranz inne Kita und aussadem sind dit Fichtenzweige, sieht doch jeder“, werde ich aufgeklärt. „Fichte sticht, Tanne nicht!“ ruft mir ein kleines Mädchen mit schief sitzender, eingesandeter Schalmütze zu, in dessen Gesicht die Rutschpartie von vorhin ihre Spuren hinterlassen hat.

Ein bisschen belämmert stehe ich nun da, belehrt von einem höchstens fünfjährigen Waldwichtel! Es knackt und der große Waldwicht kommt aus dem „Fichtenwäldchen“, wie ich nun weiß. Da mein neuzeitliches Bildungsgerät versagt hat und ich bereits von kleinen frechen Waldgeistern belehrt wurde, werfe ich meinen restlichen Stolz über Bord und frage hemmungslos drauf los, was das mit dem Juldingsbums auf sich hat und was sie denn hier so treiben.
Wie sich herausstellt, ist der ganz in olivgrün gehüllte Rabenmensch Wildnispädagoge und der Erzieher der Bande. Er erklärt mir auf meine Frage hin, dass der Rabenruf dazu diene, die Kinder zusammenzurufen. Klar könne man das auch mit gewöhnlichem lauten Rufen tun, aber dann wäre er am Ende des Monats heiser und die bei den Kindern so heißgeliebten Tierbegegnungen würden auch völlig ausbleiben, erklärt er mir. Die rabenähnlichen Rufe scheinen also eine Art Ruftarnung zu sein, um nicht den ganzen Wald verrückt zu machen. Nicht schlecht! 
„Was wollt ihr denn mit den Fichtenzweigen?“, will ich wissen und ein Fünfjähriger mit roter Zwergenmütze aus gewalkter Wolle, erklärt mir die ganze Sache dann so: „Mit den Fichtenzweigen basteln wir inne Kita einen Julkranz, so wie bei die „Gemanen“ früher und dann stecken wir vier Kerzen rein und zünden die imma zum Vespern an. Aber erst alle vier und dann immer eine weniger...wegen dem Licht.“

Ok, also doch ein Adventskranz denke ich, aber was hat das mit den Germanen zu tun und wieso erst alle Kerzen anzünden? So richtig leuchtete mir die ganze Geschichte noch nicht ein, also fragte ich noch einmal nach. 
Antwort vom kleinen Mützenmann: „...na die Sonne, hat jetzt nicht mehr so viel Kraft und deswegen geht sie jetzt immer früher schlafen. Sie muss sich ausruhen, damit sie im Frühjahr wieder länger scheinen kann und die Pflanzen wieder wachsen können...“
Meine Skepsis schien mir wohl ins Gesicht geschrieben zu sein, denn die kleinen Waldwichte trollten sich jetzt wieder und ließen mich ungläubigen Erwachsenen einfach im Nieselregen stehen. „Im Prinzip haben dir die Kinder den Kern der Sache ja schon richtig erklärt“, sagt der Rabenmann zu mir.


„Unser Adventskranz ist dem heidnischen Julrad/ Jahresrad, das den Jahreskreis symbolisiert, entlehnt. Viele indigene Völker und auch unsere Ahnen haben die Natur in der sie lebten genau studiert und festgestellt, dass das Leben in Kreisläufen zu funktionieren scheint. Das Rad ist ein altes Kreissymbol und in vielen Teilen der Welt zu finden. Es verkörpert z.B. den Jahreskreis mit dem immerwährenden Wechsel der vier Jahreszeiten. Dem Winter folgt der Frühling, dem Frühling der Sommer, dem Sommer der Herbst und dem Herbst wieder der Winter. Wenn du dich hier draußen in der Natur umschaust, und zeigt in die Runde, wirst du sogar feststellen, dass es gar kein richtiges Ende gibt! Es ist ein immerwährendes Vergehen und Neuentstehen!
 

Wir benutzen z.B. die Fichte für das Binden des Julrades, weil sie eine „immergrüne“ Pflanze ist. Sie erinnert uns auch außerhalb der Vegetationszeit an das grün des Frühjahres, das Wachstum der Pflanzen, welches für das Leben steht. Meistens schmücken wir unseren Julkranz noch mit den roten oder orangen Beerenfrüchten der Eberesche oder des Feuerdorns. Wie beim Adventskranz kommen auf den Julkranz auch vier Kerzen. Sie symbolisieren die vier Jahreszeiten und das Licht der Sonne. 
Das Licht spielte für viele indigen Kulturen, wie auch für unsere Vorfahren, eine große Rolle, waren sie doch auf die Sonne und ihre wärmenden Strahlen auf Grund der klimatischen Gegebenheiten besonders angewiesen. Wenn die Tage nun kürzer werden, die warmen Sonnenstrahlen sich immer öfter hinter den Nebelschleiern verstecken oder ganz ausbleiben, ist das für dich wenn du draußen lebst eine gravierende Veränderung“, meint der Rabe.

„Als Zeichen, dass das Licht in den Tagen vor der Wintersonnenwende immer mehr schwindet, löschen wir mit den Kindern montags (angelehnt an die Adventssonntage) immer eine Kerze mehr. Gerade heutzutage, wo wir immer und überall von elektrischem Licht, Heizungswärme usw. umgeben sind, vergessen wir oft, was draußen in der Natur jedes Jahr um uns herum passiert. Das Leben in der Natur vollzieht sich immer noch in den gleichen alten Kreisen. Das Jahr wandelt sich, das Licht kommt und geht. Und so hat jede von diesen (Jahres)Zeiten logischerweise auch ihre Qualitäten. Die Qualität des Spätherbstes, wo das Licht immer mehr abnimmt, ist z.B. Resümee ziehen, zur Ruhe kommen und Innenschau halten. Er ist wie eine Zwischenzeit, in der das Leben kurz inne hält, um Kräfte zu sammeln für das Neue(Jahr). Im Zenit der Dunkelheit zur Wintersonnenwende, wird tief unten im Schoß von Mutter Erde, für uns vielleicht noch nicht sichtbar, das Neue geboren. Das Samenkorn, welches in der schützenden Erde ruht, bekommt mit dem wiedergeborenen Licht einen Wachstumsimpuls. Nun beginnt es zu keimen und sich langsam nach oben zu schieben bis es die Erdoberfläche durchbricht. Es streckt sich dem Licht entgegen, um zu wachsen, zu erblühen, zu reifen, Samen auszubilden und zu verteilen, um dann wieder abzusterben oder sich wieder unter die Erde zurückzuziehen. 
Am 21. Dezember zur Wintersonnenwende, machen wir wieder alle vier Kerzen an. Zur Feier der Ankunft des neuen Lichtes und dass die Tage jetzt wieder länger werden, machen wir mit den Kindern ein Wintersonnenwende Feuer, in dem wir das alte Jahr verabschieden. Wir geben alles Alte, symbolisiert durch unseren Julkranz, ins Feuer. Wir lassen das Alte los und machen Platz für das Neue! So gehen wir neu und absichtsvoll in die Weihnachtsfeiertage und die Raunächte. Aber die sind noch ein anderes Thema“. 
„Wow“, sage ich. „Das war jetzt aber ganz schön viel. Das muss ich erst einmal verdauen“ und reibe mir mit meinen Händen das Gesicht. „Oh ja...Verdauen, das ist ein gutes Stichwort“, spricht der Rabe. „Wir müssen zurück in die Kita. Es gibt bald Mittagessen“ und „rabt“ wieder alle Kinder zusammen. „Also Tschüss und mach`s gut, komm gut durch die dunklen Tage“, sagt er und drückt mir noch ein paar Fichtenzweige in die Hand! „Tschüss und danke...für alles“, sage ich und stehe noch ein paar Minuten wie angewurzelt da. 

Dann gehe ich nach Hause, koche mir einen schönen warmen Tee und labe mich am Weihnachts-gebäck. Am Nachmittag hole ich mir Draht, eine Zange und eine Gartenschere aus dem Keller, nehme die Fichtenzweige aus der Vase und fange an zu basteln... Dieses Jahr mache ich das mal anders! 

www.wildnisschule-berlin.de